Kleiner Atlas der Siedlungsnamen Deutschlands

Dass die heutige Mainmetropole Frankfurt ihren Ursprung an einer Furt der Franken über den Main hat oder dass die Hauptstadt Nordrhein-Westfalens als Dorf am Flüsschen Düssel entstand, erscheint noch jedem einsichtig. Zur Erklärung des Namens Koblenz muss man hingegen schon seine Lateinkenntnisse bemühen, um ihn von confluentes (die Zusammenfließenden) herzuleiten, dem Ort, wo die Mosel in den Rhein mündet. Und der Name „Leipzig“ stammt, wie viele im östlichen Deutschland, aus dem Slawischen und enthält die Linde (altsorbisch lipa) als Bestimmungswort.

Die Namen von Siedlungen können also Hinweise geben auf deren Lage im Naturraum, auf den Zusammenhang und die Zeit ihrer Entstehung oder den regionalen Besiedlungsgang. Dabei gilt zu beachten, dass die Namen meist aus einer sprachgeschichtlich weit zurückliegenden Zeit stammen und sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Da wir nur im äußerst seltenen Fall die Gründungsurkunde einer Siedlung besitzen oder den genauen Entstehungszusammenhang kennen, lassen sich viele Namen nicht eindeutig klären.

Im deutschsprachigen Raum setzen sich zahlreiche Siedlungsnamen aus zwei Bestandteilen zusammen, dem Bestimmungswort (zumeist vorne) und dem Grundwort (zumeist hinten). Die Bestimmungswörter sind sehr häufig nach topographischen Gegebenheiten, nach Pflanzen, Bäumen und vor allem nach Personennamen (patronymische Namen) gebildet. Für die historische Einordnung eines Namens interessanter sind das Grundwort bzw. die Endung (Suffix); sie lassen sich in der Regel bestimmten Siedlungsperioden zuordnen. Man könnte sagen, dass die Verwendung der Grundwörter zeittypischen Modeerscheinungen entsprach, die sich in bestimmten Epochen häufen, in anderen Zeiten hingegen fehlen.

Die heutige Siedlungslandschaft ist das Ergebnis einer zweitausendjährigen Geschichte. Dabei war der Besiedlungsgang keineswegs ein kontinuierlicher Prozess: Dynamische Wachstumsepochen mit Siedlungsneugründungen wechselten sich ab mit Konsolidierungs- und Stagnationsperioden, unterbrochen von Schrumpfungsphasen, in denen es zu einem Rückgang der Siedlungen kam (Wüstungsperioden). Die ältesten Siedlungsnamen in Mitteleuropa stammen aus vorgermanischer Zeit, sie sind keltischen oder romanischen Ursprungs und treten vor allem, aber insgesamt selten, in der westdeutschen Germania Romana auf. Bereits etwas gehäufter kommen die frühesten germanischen Namen vor, die z. B. auf -lar oder -mar enden. Nach der Völkerwanderungszeit setzte seit dem 4. Jahrhundert eine erste große Landnahme ein, in der die fruchtbaren und leicht zu kultivierenden Gebiete besiedelt wurden. Typische Ortsnamenendungen aus dieser Zeit sind -heim, -ingen, -stedt und -stetten. In der merowingischen Zeit (6.–8. Jh.) wurde der Siedlungsraum ausgedehnt (frühe Ausbauzeit), Siedlungsnamen auf -dorf, -hausen und -weiler stammen in der Regel aus dieser Zeit. Während diese frühen Namenschichten häufig mit personalem Bestimmungswort gebildet wurden, änderte sich dies in den Rodungsperioden seit etwa dem 8. Jahrhundert. Die Altsiedellandschaften waren weitgehend bevölkert; nun begannen die Menschen in die Mittelgebirge vorzudringen. Zunächst wurden die Gebirgsränder und die Täler besiedelt (z. B. -bach, -born und -brunn), seit etwa dem 10. Jahrhundert und während des gesamten Hochmittelalters wurde der Wald immer mehr gerodet und neue Siedlungen angelegt. Typische Ortsnamenendungen dieser Zeit deuten auf den Rodungsvorgang hin, z. B. -roth, -rieth, -reut, -brand, -schwand, -hau, -schneid. Auch die für das slawische Siedlungsgebiet typischen Namenendungen auf -itz und -ow stammen aus der Zeit des früh- und hochmittelalterlichen Ausbaus. Im 14. Jahrhundert war in Mitteleuropa der Höchststand an Siedlungen erreicht; es folgte die spätmittelalterliche Wüstungsperiode, in der einige zehntausend Siedlungen (häufig auf Grenzertragsböden gelegen) aufgegeben wurden. In der Neuzeit kamen vergleichsweise wenige neue Siedlungen hinzu, darunter Industrie- und Bergbausiedlungen und Siedlungen im Zuge der Neulandgewinnung (z. B. -moor, -fehn, -koog, -deich).

Obwohl in den letzten hundert Jahren kaum neue Siedlungen gegründet wurden, ist der Bestand an geographischen Namen deutlich angestiegen. Dies liegt an den zahlreichen neuen Gemeindenamen, die im Rahmen der Gebietsreformen kreiert wurden. Allerdings zählen diese neuen Namen nicht zu den Siedlungs-, sondern zu den Verwaltungsnamen.